Zwischen Überforderung und Erstarrung – Was das Stresstoleranzfenster mit deinem Alltag zu tun hat
Es gibt Tage, an denen wir scheinbar mühelos mit Druck, Konflikten oder Chaos umgehen. Und dann gibt es Momente, in denen uns ein einziger Satz aus der Bahn wirft. Woran liegt das?
Ein Erklärungsansatz dafür kommt aus der Neurobiologie – und trägt einen Namen, der in immer mehr Kontexten an Bedeutung gewinnt:
Das Stresstoleranzfenster.
Was ist das Stresstoleranzfenster?
Das Konzept des „Window of Tolerance“ wurde von dem US-amerikanischen Psychiater und Neurobiologen Dr. Dan Siegel entwickelt. Es beschreibt den Bereich, in dem wir emotional reguliert und psychisch belastbar bleiben – selbst unter Stress.
Innerhalb dieses Fensters ist unser autonomes Nervensystem (ANS) in einem balancierten Zustand:
Wir sind ansprechbar, klar denkend, verbunden mit unserem Körperempfinden – und fähig, mit Herausforderungen umzugehen.
Außerhalb dieses Fensters geraten wir entweder in:
Übererregung (Hyperarousal) → Angst, Wut, Reizbarkeit, Impulsivität, Panik, innere Unruhe
oderUntererregung (Hypoarousal) → Rückzug, emotionale Taubheit, Antriebslosigkeit, Dissoziation
Beide Zustände sind evolutionär sinnvolle Schutzmechanismen – sie sichern in Gefahrensituationen unser Überleben. Doch im Alltag können sie dazu führen, dass wir uns chronisch erschöpft, überfordert oder wie „abgeschaltet“ fühlen.
Warum ist mein Fenster manchmal so klein?
Ob unser Stresstoleranzfenster weit oder eng ist, hängt nicht von Stärke oder Willenskraft ab. Es wird geprägt durch eine Vielzahl von Faktoren:
Frühe Bindungs- und Beziehungserfahrungen
Belastende Lebensereignisse (z. B. Verluste, Unsicherheit, Dauerstress)
Chronischer Stress oder fehlende Regenerationsphasen
Fehlende Ressourcen zur Selbstregulation
Körperliche Gesundheit und Schlaf
Wenn unser Nervensystem regelmäßig über- oder unterfordert ist, gewöhnt es sich an diese Zustände – und unser Fenster wird schmaler. Es reichen dann kleinere Reize, um uns aus dem Gleichgewicht zu bringen.
Was bedeutet das für den Alltag?
Ein enges Stresstoleranzfenster kann sich so zeigen:
Du wirst schnell reizbar, innerlich unruhig oder gereizt
Du fühlst dich oft wie abgeschnitten – von dir selbst oder anderen
Du kannst dich schwer konzentrieren, Entscheidungen fallen dir schwer
Du fühlst dich emotional „zu viel“ oder „zu wenig“
Das Wissen um dieses Konzept kann dabei helfen, sich selbst besser zu verstehen – und Mitgefühl für die eigene Reaktion zu entwickeln. Es kann auch eine Brücke schlagen zwischen Psychologie, Körpererleben und Alltagsverhalten.
Kann man das Stresstoleranzfenster erweitern?
Ja. Und das ist die gute Nachricht.
Unser Nervensystem ist plastisch – es kann sich anpassen, lernen und neu regulieren.
Zentrale Schlüssel dafür sind:
Selbstregulation: Techniken, um sich selbst aus Über- oder Untererregung wieder ins Gleichgewicht zu bringen (z. B. Atmung, Bewegung, Erdung, Körperarbeit)
Ko-Regulation: Sichere zwischenmenschliche Beziehungen, in denen unser System sich beruhigen und synchronisieren kann
Psychoedukation: Verstehen, was mit uns geschieht, reduziert oft schon Stress
Ressourcenorientierte Begleitung (z. B. körperorientiertes Coaching, traumasensible Beratung)
Ein breiteres Stresstoleranzfenster bedeutet nicht, nie mehr aus der Balance zu geraten.
Aber es bedeutet, schneller wieder zurückzufinden. Und genau das ist entscheidend.
Warum das alles wichtig ist
In einer Welt, die ständig Tempo macht, hilft es, sich selbst besser lesen zu können.
Das Stresstoleranzfenster ist ein Kompass für Selbstwahrnehmung, Gesundheit und Lebensqualität.
Wenn du den Eindruck hast, oft über deinem Limit zu funktionieren – oder kaum noch Zugang zu dir selbst zu haben – kann es lohnend sein, tiefer hinzuschauen. Nicht als Selbstoptimierung. Sondern als Einladung, dein Nervensystem wieder mehr als sicheren Ort zu erleben.